Es gibt Momente im Sportlerleben, die vergisst man nie. Spiele, bei denen man jetzt noch genau weiß, wo man sie damals verfolgt oder wie man sie erlebt hat. Geschichten, die von Jahr zu Jahr ein bisschen mehr ausgeschmückt werden, aber immer gleich anfangen: „Weißt du noch …“. In unserer Serie „Das ganz große Ding“ haben wir die Vereine nach ihrem ganz besonderen Ereignis der vergangenen Jahre gefragt. Heute erinnern sich die Sportfreunde Aligse an ihre allererste Partie in der 2. Bundesliga Nord.
Es liegt in der Natur der Sache, dass Sportler über Siege lieber sprechen als über Niederlagen. Ob Pleiten wirklich schneller aus dem Gedächtnis verschwinden als Titel und Triumphe, sei einmal dahingestellt. Das ist sicher auch eine Typfrage. Doch wer sich als „ganz großes Ding“ ausgerechnet ein verlorenes Spiel aussucht, der hebt sich zumindest von der Masse ab. Und – nichts für ungut – muss wohl auch etwas verrückt sein. Im positiven Sinne. So wie Marten Ahlborn, heute Kapitän der Aligser Volleyballer, der als das SFA-Spiel schlechthin tatsächlich eine Fünfsatz-Heimniederlage gegen die TuB Bocholt nennt. Aber immerhin gibt es für ein 2:3 im Volleyball ja einen Trostpunkt.
„Hat sich das gelohnt?“
Auf den 20. September 2014 hatten sie lange hingearbeitet im Lehrter Ortsteil. Denn mit der erstmaligen sportlichen Qualifikation für die 2. Bundesliga war nur ein erster Teil dessen vollbracht, was es für einen Start in dieser ambitionierten Spielklasse braucht. „Lizenzierung, Bandenbau, Sponsorenakquise“, zählt Ahlborn auf. Neben dem Feld war einiges zu tun in der „Sommerpause“, bis der Ball endlich wieder über das Netz fliegen konnte. „Und über allem standen die Fragen: Hat sich das gelohnt? Können wir mithalten?“, erinnert sich der 33-Jährige. Sie konnten. Und verlangten den Gästen aus dem Westmünsterland – einem gestandenen Zweitligisten – alles ab. Wirklich alles. 161 Minuten dauerte diese epische Schlacht an der Schlesischen Straße in Lehrte. „Das Wasser lief in Bächen innen an den Scheiben runter“, sagt Ahlborn lachend und liefert sogleich die Erklärung nach: „Wir hatten damals noch keinen Schlüssel, um die Fenster zu öffnen. Es waren gefühlt 100 Grad in der Bude.“
Binnen knapp drei Stunden wird so mancher Schweißtropfen vergossen. Beim 18:25, 29:27, 21:25, 25:23, 33:35 dauerte allein der furiose Schlussakt – Satz fünf, eigentlich bei 15 Punkten für eine Partei beendet – stattliche 41 Minuten.
Da mussten nicht nur die 14 Aligser Akteure sowie das Trainerteam ihre Schmerzgrenze überschreiten, auch den rund 600 Zuschauern in der randvollen Halle verlangte der Krimi psychisch und physisch eine Menge ab.
„Beim Stand von 20:20 im vierten Satz sind alle auf der Tribüne aufgestanden. Und haben sich bis zum Ende des Spiels nicht wieder hingesetzt“, schwärmt Ahlborn. „Mehrere Zuschauer haben mir nachher ihre Brandblasen an den Händen gezeigt – vom Trommeln.“ Zwei Instrumente gingen beim rhythmischen Daueranfeuern sogar zu Bruch.
Marten Ahlborns Bruder Steffen und Neuzugang Raphael Supernak wuchsen auf den Außenpositionen über sich hinaus. „Ich wusste, dass ich den Ball geben konnte, wem ich wollte; die beiden machen schon was Gutes damit“, sagt Marten Ahlborn. „Uns Zuspielern gibt so was eine unbeschreibliche Sicherheit.“
Die Angabe, wie viele Matchbälle die Gastgeber an diesem langen Samstagabend ungenutzt ließen, ist über die Jahre ein wenig ungenauer geworden. Einigen wir uns also einfach auf ungefähr fünf, während die Nordrhein-Westfalen mehr als doppelt so viele Anläufe nahmen, um schließlich allerdings den benötigten Zweipunktevorsprung herzustellen.
Entscheidender Mann war der beim Stand von 33:33 aufs Feld gekommene Bocholter Michael Maximilian Lake. SFA-Coach Harald Thiele habe am Ende nicht mehr zu wechseln gewagt, berichtet Marten Ahlborn. Dessen Gegenüber Waldemar Zaleski hingegen riskierte den Tausch und mengte der Partie mit Lake die Unterschied ausmachende Zutat bei. „Ein direkter Punkt, den anderen wunderbar vorbereitet, das war’s“, sagt Marten Ahlborn lakonisch. Lake wurde zum Matchwinner. So schnell kann es plötzlich doch gehen – nach schier unendlichen 161 Minuten.
„Da waren vielleicht zwei Sekunden Trauer“, erinnert sich Ahlborn, Sport- und Politiklehrer eines Celler Gymnasiums. „Dann habe ich einen Blick in die Zuschauer geworfen, die glücklich waren über dieses Spektakel. Dieser eine Punkt war trotzdem ein voller Erfolg.“
Bis 2017 blieben die Aligser Zweitligist – dann folgte der mehr oder minder freiwillige Rückzug in die dritte Etage. Siege gab es in diesen drei Jahren so manchen. Doch keiner ist so haften geblieben wie das Marathon-2:3 gegen die TuB Bocholt. „Wir sind angekommen und können mithalten“, beschreibt Marten Ahlborn sein persönliches Fazit von damals. Das er in Ruhe zu Hause zog. Während der Partie war dafür keine Zeit geblieben: „Da funktionierst du einfach nur noch.“
Titelfoto: Mit vereinten Aligser Kräften gegen die Turner und Ballspieler Bocholt: Marten Ahlborn (von links), Steffen Barklage und Steffen Ahlborn – Foto: Dennis Michelmann
Quelle: HAZ und NP am 17.06.2021 in allen Regionalbeilagen (außer Stadtanzeigern), geschrieben von Ole Rottmann