Ein fröhlicher Freitagabend fand für Uwe Lockstädt ein furchtbares Ende. Der Aligser, viele Jahre für Hannover 96 am Ball, hatte einen schweren Autounfall, sitzt seither im Rollstuhl. Für ein Benefizspiel kamen die Roten aufs Dorf, der heute 53-Jährige blickt zurück – aber immer auch zuversichtlich nach vorn.
An den Moment, der sein Leben veränderte, besitzt Uwe Lockstädt keine Erinnerung. „Ich weiß nur noch, dass ich einen Lkw überholt habe“, sagt er.
Die Polizei fand ihn recht bald. Da jemand einen Geisterfahrer gemeldet hatte, waren die Beamten an diesem späten Abend des 26. September 1986 sowieso auf der Autobahn 2 in Höhe Lehrte unterwegs und wurden auf den lindgrünen Opel Ascona abseits der Straße eher zufällig aufmerksam. Ob das Fahrzeug in der verkehrten Richtung dem seinerzeit 19-jährigen Lockstädt gewissermaßen das Leben gerettet hatte oder ursächlich für den Unfall gewesen ist? Bis heute ungeklärt. „Der Geisterfahrer wurde nie gefunden“, sagt Lockstädt.
Die Rettungskräfte brauchten einige Zeit, um den einzigen Insassen Lockstädt aus dem demolierten Fahrzeug, das gegen einen Baum geprallt war, zu befreien und brachten ihn in die Medizinische Hochschule, von wo aus er nach zwei Herzstillständen ins Querschnittgelähmten-Zentrum Hamburg transportiert wurde. „Ich wollte immer mal Hubschrauber fliegen“, sagt er schmunzelnd. „Aber nicht unbedingt auf diese Art.“
Seit der Kollision sitzt Lockstädt im Rollstuhl. Sein Rückenmark wurde auf Höhe des vierten und fünften Halswirbels durchtrennt. Bei der Rekonstruktion des Unfallhergangs wurden weder fremde Lackspuren noch ein technischer Defekt am Auto („Das gehörte auch noch meiner Mutter“) entdeckt. Mit einem Tempo von etwa 160 Stundenkilometern muss Lockstädt in Richtung Mittelleitplanke von der Fahrbahn abgekommen sein und anschließend eine Vollbremsung hingelegt haben.
Es war das furchtbare Ende eines fröhlichen Freitagabends. Zunächst hatte der junge Fußballer das Spiel der 2. Bundesliga zwischen Hannover 96 und Alemannia Aachen besucht, das die Gastgeber durch ein Tor von Siegfried Reich mit 1:0 gewonnen und dadurch ihre Tabellenführung ausgebaut hatten.
Danach war Lockstädt mit einem Freund noch kurz in einer Disco in Altwarmbüchen gewesen, ehe sich beide in unterschiedliche Richtungen auf den Heimweg begaben. „Die Polizei ist davon ausgegangen, dass ich eingeschlafen wäre“, sagt Lockstädt. „Ich kann mir das aber nicht vorstellen, weil es nur so ein kurzer Weg war. Alkohol habe ich zumindest nie getrunken, wenn ich Auto gefahren bin.“
Erst wenige Wochen zuvor war der talentierte Mittelstürmer von den 96-Amateuren, der spätere Lizenzspieler Oliver Stöcking hatte ihn im Juniorenalter dorthin gelotst, zur TSV Burgdorf gewechselt. „Die wollten mit jungen Leuten ein neues Team aufbauen“, sagt Lockstädt.
Zudem hatte er die A-Junioren des Vereins in seinem Heimatort – die SF Aligse – frisch als Trainer übernommen. Als seine Spieler im Sommer 1987 den Aufstieg feierten und Hannover 96 die Bundesliga-Rückkehr geschafft hatte, kam Lockstädt gerade erst wieder aus Hamburg in den Lehrter Ortsteil zurück. Acht Monate war er zur Behandlung fort gewesen.
„In der ersten Zeit hat man immer noch die Bremsspur gesehen“, sagt Lockstädt. Nicht nur deshalb fiel ihm die Rückkehr nach Hause schwer. „Im Krankenhaus hat man das nicht so richtig registriert. Da waren ja so viele Querschnittsgelähmte“, erinnert er sich. „Aber wenn kein anderer Rollstuhlfahrer mehr da ist, wird einem das alles erst richtig bewusst.“
Das Schicksal des jungen Mannes bewegte viele in und um Aligse. Und so war das Auestadion der Sportfreunde bestens gefüllt, als das seinerzeit von Hans Siemensmeyer trainierte Hannover 96 zum Benefizspiel für Lockstädt seine Aufwartung machte.
Ziemlich genau zwei Jahre nach dem Unfall kickten mit Mathias Kuhlmey, Bastian Hellberg, der als Ex-Aligser die Partie mit SFA-Betreuer Rainer Windrich angeleiert hatte, und Karsten Surmann auch drei 96er in Aligse, denen die Hauptperson am Unfallabend im Niedersachsenstadion noch zugejubelt hatte. 7250 D-Mark kamen zusammen, die Lockstädt in einen ebenerdigen Anbau des elterlichen Haus investierte.
Nicht nur mit dem Fußball war es für den heute 53-Jährigen von einem Augenblick auf den anderen vorbei. Auch anderer Sport war schwierig. Zwar versuchte sich Lockstädt bei der RSG Langenhagen im Tischtennis („Ich konnte das ganz gut, aber es hat mir irgendwann keinen Spaß mehr gemacht“) und dachte an Rollstuhl-Rugby („Bis ich zehn war, habe ich bei 97 Linden gespielt, aber mein Arm ist zu schlecht, um den Ball zu prellen“). Doch so ganz das Wahre war für den passionierten Fußballer nicht dabei.
Und noch von einem weiteren Traum musste er sich verabschieden. „Ich wollte nach meiner Lehre für ein halbes Jahr nach Amerika“, sagt Lockstädt. 1985 hatte er sich bei einer Reise mit den 96-Junioren – trainiert übrigens von Siemensmeyer – anlässlich eines Turniers auf Hawaii verliebt. In das Land, vor allem aber in die Amerikanerin Valerie, wie er mit einem Strahlen berichtet.
Die Friseurausbildung hatte er kurz vor dem Unfall noch abgeschlossen, bis Amerika hat er es nie wieder geschafft. Doch mit Valerie schreibt er sich bis heute: „Erst an der Schreibmaschine, mittlerweile per Mail.“
Als Friseur musste Lockstädt aufhören. Nach Umschulungen war er als Industriekaufmann tätig und erstellt heute Internetseiten für Kleinbetriebe. „Es wird nie klappen, sich mit mit der Situation abzufinden. Aber man hat gelernt, damit zu leben“, sagt er. „Ich habe gesehen, dass es auch schlimmer geht. Manche sind noch schlechter dran.“
Einen Ausspruch von Kira Grünberg, einer früheren Stabhochspringerin aus Österreich, die bei einem Trainingsunfall ein ähnliches Schicksal erlitt, findet er treffend: „Sportler werden mit solchen Unfällen schneller fertig, weil sie gelernt haben, mit Niederlagen umzugehen.“
HAZ, Sportbuzzer, 10.08.2020, Autor: Ole Rottmann, Foto: Debbie Jayne Kinsey & privat